Mittwoch, 12. September 2012

Tante Anna


Karl Wilhelm Ramler
Deutsche Dichter und Philosoph
1725 - 1798

Ein Fuchs, der auf die Beute ging,
fand einen Weinstock, der voll schwerer Trauben
an einer hohen Mauer hing.
Sie schienen ihm ein köstlich Ding,
allein beschwerlich abzuklauben.
Er schlich umher, den nächsten Zugang auszuspähn.
Umsonst! Kein Sprung war abzusehn.
Sich selbst nicht vor dem Trupp der Vögel zu beschämen,
der auf den Bäumen saß, kehrt er sich um und spricht
und zieht dabei verächtlich das Gesicht:
Was soll ich mir viel Mühe nehmen?
Sie sind ja herb und taugen nicht.

Ein Fuchs steht gerade fototechnisch nicht zur Verfügung.


Vielleicht aber tut es, siehe weiter unten, auch (m)ein Gartenfrosch,
um den nach wie vor modernen Inhalt der alten Fabel
vom Fuchs und den sauren Trauben "Verachten, was man nicht erreichen kann" mit Leben zu erfüllen.
In der Psychologie wird solches Schönreden 
von Versagen auch als Rationalisierung oder Kognitive-Disonanz-Reduktion bezeichnet.
Das heißt auf deutsch, einer Konfliktsituation wird nachträglich ein rationaler Sinn gegeben.
Das erinnert mich an Tante Anna (†).
Die war geizig. Sie heizte trotz klappriger Fenster höchst selten, 
trug deshalb im Winter immer, der darunterliegende doppelt so alt wie der alte obere, zwei Bademäntel in ihrer Wohnung und unter ihrer kältegeröteten Nase hing ein ewiger Tropfen.
Tante Anna war streng katholisch, besaß 27 zugelaufene Katzen und ging frühmorgens täglich zur Messe.
Wenn sie danach aus der Stadt zurückkam, sagte sie jedesmal vorwurfsvoll:" Heute haben sie schon wieder Roster gebraten!
Sie meinte damit auf dem Markt und Rostbratwürste:
"Die haben vielleicht geduftet.
Aber ich habe mir keine Wurst gekauft, die warn mär viel zu deier! *
Ich habe mich in den Rauch gestellt und das war so, als hätte ich eine gegessen."

* die waren mir viel zu teuer!